Navigation öffnen
Inhalt

„Eine unpolitische Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es nicht“

20.02.2020

Vortrag des früheren deutschen Verfassungsrichters Dieter Grimm am VfGH

Die Veranstaltung als Videomitschnitt„Was genau ist politisch an der Verfassungsgerichtsbarkeit?“ lautete der Titel eines Vortrags, den der frühere deutsche Verfassungsrichter, Professor an der Humboldt Universität  und Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin Dieter Grimm gestern, Mittwoch, am Verfassungsgerichtshof hielt. Der Vortrag reiht sich in die Veranstaltungsserie anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums der Verfassung sowie des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) ein und fiel auf den Tag der Angelobung des neuen VfGH-Präsidenten Christoph Grabenwarter durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen.

Präsident Grabenwarter stellte zu Beginn Grimm als Verfassungsrichter vor, der an wichtigen Entscheidungen betreffend die freie Meinungsäußerung und Medienfreiheit mitgewirkt hat, etwa der Entscheidung zum Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ oder dem Kruzifix-Beschluss. Dieter Grimm, so Grabenwarter, denke das Verfassungsrecht immer in historischer Perspektive und mache „Bezüge sichtbar, zuletzt etwa in einem Vergleich des Schicksals des polnischen Verfassungsgerichts mit der Entwicklung des österreichischen Verfassungsgerichts im Jahr 1933“. Der deutsche Verfassungsrechtler beschäftigt sich auch seit langem mit der Zukunft der nationalen Verfassung im Lichte der Europäisierung: „Er beleuchtet die Gefährdungen, Chancen und Defizite, die sich aus zunehmenden Einflüssen europäischer und internationaler Organisationen und Beziehungen ergeben“, hob Grabenwarter hervor.

Grimm analysierte in seinem Vortrag, wo seiner Ansicht nach die Grenzen zwischen den politischen und den rechtlichen Aspekten der Arbeit von Verfassungsgerichtshöfen verlaufen – eine Frage, die ja öffentlich immer wieder diskutiert wird, etwa im Zusammenhang mit der Bestellung neuer Richterinnen und Richter. 

Gegenstand und Wirkung eines Verfassungsgerichts sind typischerweise politisch…

Dieter Grimm unterschied dabei zwischen dem Gegenstand, den Wirkungen und dem Vorgang der Verfassungsrechtsprechung. Der Gegenstand ist laut Grimm typischerweise politisch, da Verfassungsgerichte das politische Verhalten der obersten Staatsorgane beurteilten, etwa des Parlaments, wenn es um eine Gesetzesprüfung gehe.

Gleiches gelte, zweitens, auch für die Wirkungen der Arbeit von Verfassungsgerichtshöfen: Ob ein vom Parlament beschlossenes Gesetz in Kraft treten kann oder nicht, ob ein von der Regierung ausgehandelter Vertrag vom Parlament ratifiziert werden darf oder nicht, sei von höchster politischer Bedeutung, so der frühere deutsche Verfassungsrichter. Da die Verfassung, wie Grimm ausführte, jenes Recht ist, welches politisches Handeln leitet und begrenzt, können Verfassungsgerichte politisches Verhalten sowohl untersagen als verlangen: „Das ist keine Grenzüberschreitung. Es ist der Sinn der Sache. Ein Verfassungsgericht, das politischen Fällen aus dem Weg ginge, verriete seine Aufgabe. Eine unpolitische Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es nicht.“

Anders stellt sich die Frage „politisch oder rechtlich“ laut Dieter Grimm dar, wenn es, drittens, um den Vorgang der Anwendung von Verfassungsrecht auf Streitfälle geht. Nun seien nicht mehr Politiker die Akteure, sondern die Führung gehe auf Richter über. Ab nun seien ausschließlich rechtliche Argumente zulässig, wobei Grimm einschränkte: „Es mag zwar umstritten sein, was als rechtliches  Argument gelten kann und was nicht. Unzweifelhaft ist aber, dass nicht-rechtliche Argumente unzulässig sind.“

Bleibt aber nicht doch noch Spielraum für politische Erwägungen? Hier wies Dieter Grimm darauf hin, dass die Entscheidungsfindung durch Verfassungsrichter eine „black box“ bleibe – schließlich sind Beratungen in den seltensten Fällen öffentlich. Allerdings sei ein gewisser Einblick möglich, da die Richter ihre Entscheidung ja begründen müssen.

…aber die Anwendung des Rechts auf einen Streitfall nicht 

Wenn es nun um die Interpretation der Verfassung, ihre Anwendung auf einen konkreten Streitfall gehe, gebe es Spielräume. Diese werden, so Grimm, durch die juristische Dogmatik, also in Wissenschaft und Praxis herausgebildete und überwiegend geteilte Auffassungen von der „richtigen“ Auslegung durch Präzedenzfälle und durch die Interpretationsmethode begrenzt. Zwar bestehen dann vielleicht noch immer mehrere Interpretationsmöglichkeiten. Aber solche Meinungsverschiedenheiten zwischen Richtern über die richtige Lösung sind dann, unterstrich Grimm, rechtliche Meinungsverschiedenheiten.

Die nächste Frage sei, was für die Wahl einer bestimmten rechtlich möglichen Lösung ausschlaggebend sei. Schlagen hier nun politische Überzeugungen, Parteiaffiliationen, Eigeninteressen ungehindert durch? Nein, meint Dieter Grimm, denn dies sei nur ein Problem, wenn Richter immer gemäß ihren Überzeugungen und Interessen abstimmen würden, was sicher nicht der Fall sei.

Eine größere Rolle bei der Interpretation einer Norm spielen laut dem ehemaligen Verfassungsrichter Vorverständnisse und Hintergrundannahmen. Zeitströmungen wie zum Beispiel veränderte Einstellungen etwa zu Geschlechterrollen oder sexueller Orientierung spielen eine Rolle und beeinflussen die Auslegung des höchst offenen Gleichheitssatzes: „Verfassungsgerichte stehen nicht außerhalb der Gesellschaft, für die sie Recht sprechen. Sie sind dem Wandel der Anschauungen ebenso ausgesetzt wie sie auf ihn einwirken“, hielt Grimm fest. Abgemildert werde dies aber dadurch, dass die Interpretation immer vom Kollektiv der Richterschaft als rechtlich relevant akzeptiert werden müsse. Außerdem, betonte Grimm, überprüft die Rechtswissenschaft die Rechtsprechung auf ihre logische Konsistenz hin, und auch die öffentliche Debatte sei ein Korrektiv, falls ein Verfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung die Grenze zwischen der Interpretation und einer Änderung der Verfassung überschreite. 

Dennoch muss laut Dieter Grimm die Praxis der Verfassungsgerichte politisch korrigierbar sein. Das Korrektiv bestehe freilich nicht darin, dass die Politik Urteile außer Kraft setzen oder ignorieren dürfe. Im Rechtsstaat gebe es keine rückwirkende, sondern nur eine prospektive Korrektur von Verfassungsrechtsprechung. Das Mittel dafür? Eine Verfassungsänderung.

Die Veranstaltung als Videomitschnitt

Videopreview
Zum Seitenanfang