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„Das historisch beste Modell“: Holzinger mahnt die Anstrengung um den Rechtsstaat ein

02.10.2017

Der VfGH-Präsident erinnert zum Verfassungstag an Gefahren für den Rechtsstaat. Dessen Bestand hängt von jedem einzelnen ab. (mit Videos)

Kardinal Christoph Schönborn, Altbundespräsident Heinz Fischer, Bundespräsident Alexander Van der Bellen und VfGH-Präsident Gerhart Holzinger am Rande des Verfassungstages. (Foto BKA/Dunker) 
VfGH-Präsident Gerhart Holzinger bei der Festrede zum Verfassungstag. (Foto: BKA/Dunker) 

Verfassungsgerichtshof-Präsident Gerhart Holzinger mahnt zu Wachsamkeit im Hinblick auf den Rechtsstaat. Internationale Entwicklungen – „nicht irgendwo auf der Welt, sondern durchaus auch in Staaten des Westens und insbesondere auch bei uns in Europa“ – zeigten, welchen Bewährungsproben der Rechtsstaat ausgesetzt sei, erinnerte er in seinem Festvortrag zum Verfassungstag. Dieser demokratische Rechtsstaat in einem vereinten Europa sei aller historischen Erfahrung nach das beste Modell zur Ordnung unseres Gemeinwesens. Holzinger, der den VfGH wegen Erreichens der Altersgrenze zu Jahresende verlässt, appellierte daher, „dass wir uns jeden Tag aufs Neue anstrengen müssen, um das Erreichte zu bewahren“. 

Mit dem Verfassungstag erinnert der VfGH alljährlich an den Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes in der konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920. Unter den Gästen des Festakts waren Bundespräsident Alexander Van der Bellen, sein Vorgänger Heinz Fischer und Kardinal Christoph Schönborn. Als Zeichen der Solidarität hat Holzinger außerdem den früheren Präsidenten des polnischen Verfassungsgerichts, Andrzej Rzepliński, und dessen Stellvertreter Stanislaw Biernat eingeladen. Der VfGH will damit zeigen, dass die Sorge um eine funktionierende Verfassungsgerichtsbarkeit ein gesamteuropäisches Anliegen sein muss.

Polen, wo die regierende Mehrheit das Verfassungsgericht „zunächst weitgehend lahmgelegt und in der Folge offenbar gezielt mit eigenen Parteigängern besetzt hat“, ist für Holzinger auch eines der internationalen Beispiele für die Gefahren, denen Rechtsstaat und Demokratie ausgesetzt sind. „Unter Berufung auf die bei Wahlen erzielte Mehrheit wird offen die Legitimität der gerichtlichen Kontrolle staatlichen Handelns in Zweifel gezogen“, fasste er die Entwicklungen zusammen.

Als weitere Beispiele nannte er den amtierenden Präsidenten der USA, der Richterentscheidungen als „lächerlich“ zurückgewiesen haben, die britische Premierministerin, die Grundrechte „ändern“ wolle, soweit sie bei der Bekämpfung des Terrorismus „im Wege stehen“, sowie die offene Ablehnung gegen die Entscheidung des Gerichtshofes der europäischen Union (EuGH) in einigen Mitgliedstaaten. Zu Ende gedacht stelle dies „die EU als gemeinsamen Raum des Rechts und damit eine der wichtigsten Errungenschaften der europäischen Integration in Frage“.

Österreich sei von derartigen Entwicklung zwar weit entfernt. Jedoch: „Aber auch hierzulande ist nicht alles Gold, was glänzt. Mitunter gewinnt man auch bei uns den Eindruck, dass das Bekenntnis zum Rechtsstaat zwar ein beliebtes Thema für die Sonntagsrede ist, aber die Woche über schnell darauf vergessen wird.“

Auch in Österreich würden Rechtsstaat und Demokratie gegeneinander ausgespielt. Der Kontrollverlust des Staates im Zuge der Migrationskrise 2015 habe „das Vertrauen der Menschen in die Funktionsfähigkeit des Staates – auch als Rechtsstaat – erschüttert“. In dieselbe Richtung wirke zudem ein „legislativer Aktionismus, der auf neu auftauchende Probleme geradezu reflexartig mit dem Ruf nach neuen ‚schärferen‘ Gesetzen reagiert, ohne geprüft zu haben, ob nicht die bestehenden Regelungen ausreichen, würden sie nur konsequent angewendet“.

Daher, so betonte Holzinger, sei Wachsamkeit geboten. Klar ist für ihn auch, dass hier jede und jeder Einzelne gefordert sei. Ausführlich widmete sich der Präsident in seinem Vortrag der Rolle, die Verfassungsgerichte dabei zu übernehme hätten. Diese stünden keinesfalls im Widerspruch zur Demokratie, sondern seien besonders geeignet, den Schutz der Minderheit gegen Übergriffe der Mehrheit – und damit ein wesentliches Grundprinzip der Demokratie – sicherzustellen.

Selbst die beste Verfassung, das beste Parlament und das beste Verfassungsgericht seien aber keine Gewähr für den Bestand der Demokratie. „In Zeiten der Krise kommt es letztlich darauf an, dass die Menschen eines Landes den festen Willen entwickeln, Rechtsstaat und Demokratie zu bewahren“, betonte Holzinger. Oder, in den Worten des Schweizer Staatsrechtslehrers Werner Kägi: „Der Rechtsstaat ist jene Ordnung, in der ein politisch reifes Volk seine eigene Beschränkung anerkennt.“ 

Holzinger erinnerte schließlich an die internationale Vorreiterrolle Österreichs bei der Etablierung von Verfassungsgerichten. Die Weiterentwicklung in anderen Ländern habe aber dazu geführt, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit in Österreich verglichen mit diesen jüngeren Verfassungsgerichten „in mancher Hinsicht deutlich  restriktiver ausgestaltet ist“. Insbesondere sehe die österreichische Bundesverfassung bis heute keine „Urteilsverfassungsbeschwerde“ gegen Entscheidungen der ordentlichen Gerichte vor. „Aus rechtspolitischer Sicht ist dies zu bedauern“, betonte der VfGH-Präsident. Denn eine allgemeine Verfassungsbeschwerde würde eine einheitliche Interpretation der Verfassung und damit auch der Grundrechte ermöglichen. Durch den damit verbundenen Abbau von Doppelgleisigkeiten ergäbe sich auch eine erhebliche Vereinfachung des Rechtsschutzsystems.

Eröffnung Vizepräsidentin Brigitte Bierlein (PDF 0.2 MB) Grußworte Bundespräsident Alexander Van der Bellen (PDF 0.1 MB) Festrede Präsident Gerhart Holzinger (PDF 0.5 MB) Speech President Gerhart Holzinger (EN) (PDF 0.5 MB) Presseinformation vom 2. Oktober 2017 (PDF 0.3 MB)


Begrüßung Bundespräsident Alexander Van der Bellen:

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Eröffnung Vizepräsidentin Brigitte Bierlein:

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Festrede VfGH-Präsident Gerhart Holzinger: „Die Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat“ (gesamt):

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VfGH-Präsident Gerhart Holzinger und der Rechtsstaat: „Auf die Menschen kommt es an!“ (Ausschnitt):

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VfGH-Präsident Gerhart Holzinger und die Basis des Rechtsstaats (Ausschnitt):

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VfGH-Präsident Holzinger zur Bewährungsprobe für den Rechtsstaat (Ausschnitt):

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VfGH-Präsident Holzinger und das „Grenzorgan“ Verfassungsgerichtshof (Ausschnitt):

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