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VfGH: Teile der Bestellung und Zusammensetzung von ORF- Stiftungs- und Publikumsrat sind verfassungswidrig

10.10.2023

Verstöße gegen das Unabhängigkeits- und Pluralismusgebot nach dem BVG Rundfunk 

Der VfGH hat einzelne Bestimmungen des ORF-Gesetzes über die Bestellung und die Zusammensetzung des Stiftungsrats und des Publikumsrats als verfassungswidrig aufgehoben. Die Bestimmungen verstoßen gegen das in Art I Abs 2 des Bundesverfassungsgesetzes über die Unabhängigkeit des Rundfunks (BVG Rundfunk) verankerte Gebot der Unabhängigkeit und pluralistischen Zusammensetzung dieser Organe.

Stiftungsrat:

  • Die Bundesregierung nominiert derzeit neun Mitglieder des Stiftungsrats, während der Publikumsrat nur sechs Mitglieder bestellt. Es verstößt gegen das Pluralismusgebot des Rundfunk-BVG, wenn die Bundesregierung mehr Mitglieder bestellen kann als der Publikumsrat.
  • Verfassungsrechtlich unbedenklich ist die Bestellung von neun Mitgliedern durch die Bundesländer sowie die Bestellung von sechs Mitgliedern des Stiftungsrats auf Vorschlag der im Nationalrat vertretenen Parteien und von fünf Mitgliedern durch den Zentralbetriebsrat des ORF.
  • Die Mitglieder des Stiftungsrats werden für vier Jahre bestellt. Die insgesamt 18 von der Bundesregierung und den Ländern sowie die sechs vom Publikumsrat bestellten Stiftungsräte können nach Bildung einer neuen Regierung bzw. nach einer Neukonstituierung des Publikumsrats vor dem Ende ihrer Funktionsperiode abberufen werden. Dies verstößt gegen das Unabhängigkeitsgebot.
  • Keine Bedenken bestehen gegen eine vorzeitige Abberufung der sechs Parteienvertreter und der fünf Belegschaftsvertreter im Stiftungsrat.

Publikumsrat:

  • Der Bundeskanzler (derzeit: die Medienministerin) bestellt 17 Publikumsräte, während 13 Mitglieder von im Gesetz festgelegten anderen Stellen (Kammern, Kirchen, Parteiakademien) nominiert werden. Es verstößt gegen die verfassungsrechtlichen Gebote der Unabhängigkeit und pluralistischen Zusammensetzung des Publikumsrats, wenn die Medienministerin mehr Mitglieder bestellen kann als die anderen Stellen.
  • Die 17 von der Medienministerin zu bestellenden Mitglieder des Publikumsrats sollen 14 gesellschaftliche Gruppen repräsentieren. Es verstößt gegen das Unabhängigkeits- und Pluralismusgebot, dass das ORF-G nicht genau genug regelt, wie viele Mitglieder der einzelnen Gruppen zu bestellen sind und welche Vorschläge von welchen Organisationen berücksichtigt werden.  

Die verfassungswidrigen Bestimmungen treten mit Ablauf des 31. März 2025 außer Kraft. Bis dahin hat der Gesetzgeber Zeit, eine Neuregelung zu treffen. 

Die Funktionsperiode des Stiftungsrats und des Publikumsrats dauert jedenfalls bis zu dem Tag, an dem der neu bestellte Stiftungsrat/Publikumsrat zusammentritt. Stiftungs- und Publikumsrat sind auch dann beschlussfähig, wenn nicht alle Mitglieder bestellt sind. 

Erwägungen des VfGH im Detail 

Nach dem Bundesverfassungsgesetz vom 10. Juli 1974 über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks (BVG Rundfunk) ist es Aufgabe des Gesetzgebers, nähere Bestimmungen für den Rundfunk und seine Organisation festzulegen. Diese Bestimmungen müssen insbesondere vier Punkte gewährleisten: Objektivität und Unparteilichkeit der Berichterstattung, die Berücksichtigung der Meinungsvielfalt, die Ausgewogenheit der Programme sowie die Unabhängigkeit der Personen und Organe (Art. I Abs. 2 BVG Rundfunk).

Daraus folgt für den VfGH: Die Bestellung und Zusammensetzung des ORF Stiftungs- und Publikumsrats muss so geregelt sein, dass keinem staatlichen Organ ein einseitiger Einfluss auf die Zusammensetzung dieser kollegialen Leitungsorgane des ORF zukommt, der ihre Unabhängigkeit gefährden kann. Auch ist sicherzustellen, dass unterschiedliche Interessen und Sichtweisen in die Willensbildung einfließen (Pluralismus) und sachfremde Interessen die Entscheidungsfindung nicht dominieren können.

I. Gründe für die Aufhebung von Bestimmungen betreffend den Stiftungsrat 

Übermäßiger Einfluss der Bundesregierung: Neben sechs Vertretern auf Vorschlag der im Nationalrat vertretenen Parteien bestellt die Bundesregierung weitere neun Mitglieder des Stiftungsrats, ohne auf Vorschläge Bedacht nehmen zu müssen (§ 20 Abs. 1 Satz 1 Z 3 ORF-Gesetz). Bei diesen Mitgliedern handelt es sich um eine relativ große Gruppe, die ein deutliches Übergewicht zu den vom (gesellschaftlich repräsentativ zusammengesetzten und staatsfernen) Publikumsrat bestellten sechs Mitgliedern hat. Das verstößt  gegen die Verfassungsgebote der Unabhängigkeit und des Pluralismus bei der Bestellung und Zusammensetzung  der Leitungsorgane des ORF.

Vorzeitige Abberufungsmöglichkeit: Die Mitglieder des Stiftungsrats werden grundsätzlich für die Dauer von vier Jahren bestellt. Die je neun von der Bundesregierung und den Ländern bestellten sowie die sechs vom Publikumsrat bestellten Mitglieder des Stiftungsrats können nach Bildung einer neuen Bundes- oder Landesregierung bzw. nach einer Neukonstituierung des Publikumsrats abberufen werden. Dies widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot der Unabhängigkeit. Keine Bedenken bestehen gegen die Möglichkeit einer vorzeitigen Abberufung der sechs Parteienvertreter und der fünf Belegschaftsvertreter im Stiftungsrat.

Mangelnder Pluralismus: Die von der Bundesregierung und vom Publikumsrat zu bestellenden Mitglieder des Stiftungsrats müssen hohen persönlichen und fachlichen Anforderungen genügen, die sie in unterschiedlichen Bereichen erworben haben. Das ORF-Gesetz enthält aber keine Vorkehrungen dafür, wie sich diese Vielfaltsanforderungen innerhalb der von der Bundesregierung und dem Publikumsrat zu bestellenden Mitglieder widerspiegeln sollen. Damit ist aber der Entscheidungsspielraum, welche Personen die Bundesregierung und der Publikumsrat bestellen, zu weit gezogen, weil der im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben bedeutsame Pluralismusaspekt in der Zusammensetzung des Stiftungsrats leerlaufen kann. Das verstößt gegen Art I Abs 1 BVG Rundfunk. 

II. Gründe für die Aufhebung von Bestimmungen betreffend den Publikumsrat 

Übermäßiger Einfluss des Bundeskanzlers: Der derzeit insgesamt 30-köpfige Publikumsrat besteht erstens aus 13 Mitgliedern von im ORF-Gesetz unmittelbar genannten Organisationen (u.a. Sozialpartner, Kammern der freien Berufe, Kirchen). Zweitens hat der Bundeskanzler (derzeit die Medienministerin) für weitere 17 Mitglieder Dreiervorschläge von Einrichtungen bzw. Organisationen einzuholen, die für 14 Bereiche (Gruppen) wie Hochschulen, Kunst, oder ältere Menschen repräsentativ sind (§ 28 Abs. 4 ORF-Gesetz). Diesen 17 vom Bundeskanzler zu bestellenden Mitgliedern des Publikumsrats kommt ein deutliches Übergewicht gegenüber den 13 übrigen, von repräsentativen Einrichtungen unmittelbar zu bestellenden Mitgliedern zu. Dies entspricht nicht der Unabhängigkeitsanforderung aus dem BVG Rundfunk: Der Gesetzgeber muss die Regelung so austarieren, dass die unmittelbar von repräsentativen Einrichtungen bestellten Mitglieder zumindest im selben Ausmaß im Publikumsrat vertreten sind wie die vom Bundeskanzler (bzw. von der Medienministerin) in Auswahl aus Vorschlägen bestellten Mitglieder.

Zu weiter Spielraum des Bundeskanzlers: Der Bundeskanzler (bzw. derzeit die Medienministerin) bestellt 17 Mitglieder des Publikumsrats aufgrund von Dreiervorschlägen von Organisationen, die für im ORF-Gesetz näher genannte Bereiche bzw. Gruppen (z.B. Bildung, Kunst, Sport, Jugend, ältere Menschen, Volksgruppen, Umweltschutz) repräsentativ sind. Der Bundeskanzler ist jedoch an keine Vorgaben gebunden, wie viele solche Organisationen er aus einem Bereich bzw. für eine Gruppe als repräsentativ auswählt und zur Erstattung von Vorschlägen auffordert. Er ist auch nicht gebunden, aus welchen Dreiervorschlägen er dann auswählt und wie die 17 Mitglieder auf die 14 im Gesetz genannten gesellschaftlichen Bereiche bzw. Gruppen zu verteilen sind. Damit ist die Auswahl dieser 17 Mitglieder des Publikumsrats so weitgehend in das Belieben des Bundeskanzlers (bzw. der Medienministerien) gestellt, dass die verfassungsrechtlichen Gebote der Unabhängigkeit und pluralistischen Zusammensetzung dieses Leitungsorgans des ORF verletzt sind.

(G 215/2022)

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