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Oktober-Session mit Fällen betreffend Sterbehilfe, „Kopftuchverbot“ und COVID-19

18.09.2020

Die Beratungen des Richterkollegiums sind von 21. September bis 10. Oktober angesetzt

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) tritt am Montag, 21. September 2020, zu einer Session zusammen, die bis Samstag, 10. Oktober 2020, anberaumt ist. Auf der Tagesordnung stehen rund 500 Fälle; 52 davon werden im Plenum des Gerichtshofes beraten, die weiteren in Kleiner Besetzung. Zur Beratung gelangen unter anderen folgende Fälle:

Aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) und Mitwirkung am Suizid

Nach den §§ 77 und 78 des Strafgesetzbuches ist aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen, wenn etwa ein Arzt auf expliziten Wunsch des Patienten ein tödliches Medikament verabreicht) sowie Mitwirkung am Suizid verboten. Beides ist mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zu bestrafen. 

Vier Antragsteller – darunter zwei Schwerkranke und ein Arzt – halten das Verbot der aktiven Sterbehilfe und das Verbot der Mitwirkung am Suizid aus mehreren Gründen für verfassungswidrig und haben daher beim VfGH die Aufhebung dieser beiden Bestimmungen des Strafgesetzbuches beantragt: Durch diese Rechtslage würden leidende Menschen gezwungen, entweder entwürdigende Verhältnisse zu erdulden oder – unter Strafandrohung für Helfer – Sterbehilfe im Ausland in Anspruch zu nehmen.

Die Beratungen über diesen Fall haben bereits im Juni 2020 begonnen. Zur weiteren Klärung der Rechtssache führt der VfGH am Donnerstag, 24. September 2020, 9.30 Uhr, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Näheres dazu finden Sie unter diesem Link.

(G 139/2019)

Verhüllungsverbot in Volksschulen („Kopftuchverbot“) 

Seit einer Novelle zum Schulunterrichtsgesetz (SchUG) aus dem Jahr 2019 ist es Volksschülerinnen und Volksschülern untersagt, „weltanschaulich oder religiös geprägte Bekleidung zu tragen, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist“. 

Gegen diese Regelung (§ 43a SchUG) wenden sich zwei Kinder und deren Eltern. Die Kinder werden religiös im Sinne der sunnitischen bzw. schiitischen Rechtsschule des Islam erzogen. Sie sehen in dieser Vorschrift, die letztlich auf das islamische Kopftuch (Hidschab) ziele, einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit bzw. auf religiöse Kindererziehung. Das Tragen eines Kopftuchs sei nämlich Teil der Glaubenspraxis im Islam. Zudem sei der Gleichheitsgrundsatz verletzt, weil andere religiös geprägte Bekleidung wie die jüdische Kippa oder die Patka der Sikhs von diesem Verbot nicht erfasst sei.

Auch dieser Fall wurde bereits im Juni 2020 beraten; die Beratungen werden nunmehr fortgesetzt.

(G 4/2020)

COVID-19-Maßnahmen: Gastgewerbe, Maskenpflicht, Schulen und Zivildienst

Zahlreiche Anträge auf Gesetzes- bzw. Verordnungsprüfung, die seit März beim VfGH eingelangt sind, richten sich gegen Maßnahmen, die die Verbreitung von COVID-19 verhindern sollen. Über einen Teil dieser Anträge – etwa betreffend das COVID-19-Maßnahmengesetz oder die Themen Betretungsverbote für öffentliche Orte und für Betriebsstätten – wurde bereits im Juli entschieden (siehe hier).

Noch nicht entschieden sind Anträge, in denen sich Gastwirte und Betreiber von Bars und Diskotheken gegen die seinerzeit verhängten Betretungsverbote und andere Beschränkungen wenden. Auch berät das Richterkollegium über Anträge, die sich gegen die Maskenpflicht oder gegen Hygienevorschriften an Schulen richten sowie über den Antrag eines Zivildieners, der argumentiert, die Verpflichtung im März 2020 zum außerordentlichen Zivildienst sei gesetzwidrig.

(V 405/2020, G 272/2020, V 463/2020, V 436/2020, E 1262/2020 ua.)

„Klimaklage“ gegen steuerliche Begünstigungen für die Personenbeförderung mit Luftfahrzeugen

Ein von rund 8000 Personen eingebrachter Individualantrag auf Gesetzes- und Verordnungsprüfung wendet sich gegen verschiedene steuerliche Begünstigungen für die Luftfahrt; diese verstießen gegen den Gleichheitsgrundsatz, aber auch gegen die Verpflichtung des Staates, das Leben und die Gesundheit des Einzelnen vor den Folgen des globalen Klimawandels zu schützen.

(G 144/2020 ua.)

Mautbefreiung auf der Rheintalautobahn zwischen Hörbranz und Hohenems

Seit Dezember 2019 können Autofahrer die A 14 Rheintalautobahn zwischen der Staatsgrenze bei Hörbranz und der Anschlussstelle Hohenems benützen, ohne die Bundesstraßenmaut bezahlen zu müssen. Eine Anrainerin erachtet diese Befreiung als verfassungswidrig; sie sieht sich als Folge der Zunahme von Lärm und Luftschadstoffen im Recht auf Privatleben verletzt.

(G 152/2020)

Gemeindevolksabstimmungen in Vorarlberg

Beim VfGH ist die Anfechtung einer Volksabstimmung in der Vorarlberger Gemeinde Ludesch über die Widmung von Grundstücken anhängig. Medienberichten zufolge steht die Frage der Widmung mit Plänen im Zusammenhang, wonach der Getränkehersteller Rauch bzw. der Aludosen-Produzent Ball Betriebsanlagen erweitern möchte.

Dazu hat der VfGH im März 2020 beschlossen, die (landes‑)rechtlichen Grundlagen dieser Volksabstimmung in der Landesverfassung, dem Gemeindegesetz und dem Landes-Volksabstimmungsgesetz von Amts wegen daraufhin zu prüfen, ob sie der Bundesverfassung entsprechen. Derzeit kann in Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung durch das Gemeindevolk offenbar eine verbindliche Entscheidung getroffen werden, ohne dass die Gemeindevertretung bzw. das an sich zuständige Gemeindeorgan daran inhaltlich mitwirken kann. Der VfGH hat deswegen Bedenken: Dies scheine gegen das auch für die Gemeinde geltende repräsentativ-demokratische System der Bundesverfassung zu verstoßen.

Der VfGH hat nunmehr zu entscheiden, ob dieses Bedenken zutrifft; er hat zu diesem Zweck Äußerungen der Vorarlberger Landesregierung, der übrigen Länder sowie der Bundesregierung eingeholt. Nach Abschluss dieses Gesetzesprüfungsverfahrens kann der VfGH auch über die eigentliche Anfechtung entscheiden.

(G 166/2020 ua., W III 2/2019)

Seiersberg: Öffentlicher Interessentenweg in einem Einkaufszentrum?

Die Volksanwaltschaft hat beim VfGH beantragt, eine Verordnung des Gemeinderates der Gemeinde Seiersberg-Pirka aufzuheben. Mit der Verordnung wurden Teile eines Einkaufszentrums, der Shopping City Seiersberg, als öffentliche Interessentenwege eingeordnet. Die gesetzliche Grundlage der angefochtenen Verordnung bildet das Steiermärkische Landesstraßenverwaltungsgesetz 1964. Bei Behandlung dieses Antrages sind im VfGH Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage entstanden; er hat daher im Oktober 2019 beschlossen, von Amts wegen ein Prüfungsverfahren betreffend die Verfassungsmäßigkeit näher bezeichneter Bestimmungen des Landesstraßenverwaltungsgesetzes einzuleiten.

Im Einzelnen hat der Gerichtshof das Bedenken, dass die gesetzlichen Bestimmungen über öffentliche Interessentenwege sowohl gegen das allgemeine Sachlichkeitsgebot als auch gegen die verfassungsrechtlichen Schranken der Gemeindeautonomie verstoßen. Er hat nunmehr – nach Befassung der Steiermärkischen Landesregierung – zu entscheiden, ob seine Bedenken begründet sind.

In der Frage ging es, vereinfacht gesagt, darum, ob die Shopping City Seiersberg im rechtlichen Sinn als ein einziges großes Einkaufzentrum gilt oder ob die fünf Gebäude jeweils ein einzelnes Einkaufszentrum bilden. Ursprünglich bewilligt wurden fünf einzelne Zentren; 2016 entschied der VfGH jedoch, dass es sich um ein einzelnes, baulich nicht getrenntes Einkaufszentrum handelt. Damit war der weitere Betrieb in Frage gestellt. Die Verordnung, Teile des Einkaufszentrums als Interessentenwege einzuordnen, schien das rechtliche Problem zunächst zu lösen.

(G 259/2019, V 44/2019)

Sitzungsablauf

Dass Fälle auf die Tagesordnung einer Session gesetzt werden, bedeutet nicht automatisch, dass diese Fälle auch in derselben Session entschieden werden. Wenn noch Fragen geklärt werden müssen, ist eine Verschiebung in eine spätere Session möglich.

Der VfGH gibt seine Entscheidungen durch Zustellung an die Verfahrensparteien oder mündliche Verkündung bekannt. Bis dahin kann der VfGH keine Aussage über die Art der Erledigung eines Falles treffen.

Zum Schutz vor Infektionen mit COVID-19 erfolgen die Beratungen der 14 Verfassungsrichterinnen und -richter unter Einhaltung von Hygieneregeln und eines Abstands von mindestens einem Meter zwischen den Personen.

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